Einmal Hölle und zurück: Die Paris-Roubaix Challenge
Einhundertfünfundvierzig Kilometer. Mehr als ich bisher je am Stück gefahren bin. Knapp ein drittel der Strecke über Kopfsteinpflaster, die im flämischen als Kinderköpfe bezeichnet werden – zurecht, wie ich immer wieder schmerzhaft erfahre. Das ist die Paris-Roubaix-Challenge 2017, das Jedermann-Event einen Tag, bevor die Profis sich auf die anspruchsvolle Strecke zwischen Paris (bzw. etwas außerhalb von Paris) und dem nordfranzösischen Roubaix machen. Die Hölle des Nordens wird das Rennen seit jeher genannt und nach 145 Kilometern weiß ich, dass der Eintagesklassiker den Namen vollkommen zu recht trägt.
Rückblende
Auf der Suche nach einem Radevent für das Frühjahr 2017 sprach ich auch mit Chris von Good Times Roll und erfuhr, dass er und das Team mit ein paar anderen Leuten an der diesjährigen Paris-Roubaix-Challenge teilnehmen würden. Schnell war der Entschluss gefasst, ebenfalls mitzufahren. Da die anderen sich schon für die 145 Kilometer Variante (es gab noch 70 und 172 km) angemeldet hatten, blieb mir nichts anderes übrig, als es ihnen gleich zu tun – denn alleine die 70 Kilometer zu fahren kam gar nicht in Frage. Problem dabei: Bisher bin ich zwei Mal knapp 100 Kilometer gefahren, nie aber mehr. Aber es war erst Februar und ich hatte noch zwei Monate Zeit bis zum Event; also genug Zeit um zu trainieren. Acht Wochen später luden wir unsere Fahrräder in Bochum in die Autos. Ich hatte in der Zwischenzeit eine RTF über 75 Kilometer sowie eine Hausrunde mit 40 Kilometer Länge absolviert, war ein paar Mal joggen gewesen und hatte mich sonst mit Arbeit und einer Erkältung rumgeplagt. Perfekte Vorbreitung sieht anders aus.
Auch das Setup meines Rades war nur so mittel. Chris, Sam, Nils und Pia (alle vom Good Times Roll Team) waren mit Crossern mit breiten Reifen und Scheibenbremsen unterwegs, Carlos Laser hatte sein Reiserenner dabei, mit dem er schon mal in Japan ein mehrtägiges Langstreckenevent absolviert hatte. Ich fuhr auf einem normalen Rennrad mit dünnen 25er-Reifen, weil dickere nicht passen wollten. Immerhin hatten Carlos Serra und Toni vom Raw Cycling Mag auf ihren Edelsten-Rädern auch normale Straßenreifen montiert.
Anreise
In Bochum geht es los, nach Holland rüber, Eindhoven recht liegen lassen, Richtung Belgien, an Antwerpen vorbei, dann Gent, kurz vor dem Ziel dann noch Kortrijk (wo wir unser Appartements hatten) und über die belgisch-französische Grenze nach Roubaix. Hier holen wir am Velodrome Stab unsere Starnummern ab (wie ca. 2.000 andere Radfahrer), schauen uns bei den Ständen um und machen erste Fotos vom berühmten Velodrom, in das wir am Samstag und die Profis am Sonntag einfahren werden. Nach kurzem Shopping-Stopp (Nudeln, Tomaten, Eier, Bier – das Wichtigste halt) geht es zu unseren Appartements zurück nach Belgien.
In einer Flachfabrik haben wir zwei Ferienwohnungen gemietet, die zwar spartanisch eingerichtet sind, aber alles nötige am Start haben. Zudem finden sich rundherum nur plattes Land und ruhige Feldwege. Letztere laden natürlich direkt zu einer kurzen Ausfahrt ein – Testkilometer für den nächsten Tag sammeln. Nach Carbo-Loading alias Nudeln mit Tomatensoße und ein, zwei, sieben Bier geht es ziemlich früh ins Bett, denn der Wecker soll am nächsten Morgen um 5:30 Uhr klingeln.
Challenge
Der Wecker klingelt tatsächlich so früh. Völlig abartig früh. Aber wir wollen früh los, um nicht nachher unter Druck zu kommen. Nach dem Frühstück packen wir die Räder in die Autos, alle ziehen sich um und ab geht es nach Roubaix. Dort werden die Räder direkt wieder zusammengebaut, Energieregel und Wasserflaschen aufgefüllt. Bei 5 Grad geht es im morgendlichen Nebel auf die Strecke. Die ersten 50 Kilometer sind Hauptstraßen und kleinere Nebenstraßen, Kopfsteinpflaster glänzt (Gott-sei-Dank) noch durch Abwesenheit. Nach 30 Kilometer der erste Verpflegungstopp, bei dem noch Witze gemacht werden, wie man nachher im Galopp über die Pavé-Stücke bügeln wird. Bei Kilometer 51 dann die erste – und wahrscheinlich berühmteste – Kopfsteinpflaster-Sektion: der Wald von Arenberg mit einer Länge von 2,4 Kilometer und Pflastersteinen mit Lücken und Höhenunterschieden, die ziemlich schnell die ersten Plattfüße fabrizieren. Rechts und links rollen die Fahrer und Fahrerinnen aus, um fluchend die Schläuche zu wechseln.
Von nun an werden sich normale Straßen mit Kopfsteinpflaster ständig abwechseln, insgesamt 18 Sektionen, die mit fünf (schwer) bis einen (leicht) Stern bewertet werden, gilt es zu passieren. Schon bei der zweiten Passage tun mir die Hände weh, auch wenn die gepolsterten Bioracer-Handschuhe einen guten Dienst tun. Die Schmerzen werden nicht besser, egal welche Taktik man beim Überfahren der Kopfsteinpflaster nutzt – die Meinungen gehen von „fest zupacken“ bis „ganz locker auflegen“ auseinander.
Aber ich will nicht meckern, Pia trifft es um einiges härter: Direkt nach dem zweiten Pavé zeigt sich, dass die zu großen Handschuhe, die sie trägt, die falsche Wahl sind. Sie bekommt direkt Blasen an den Händen, die aufplatzen und natürlich für ziemliche Schmerzen sorgen. Trotzdem zieht sie die 145 Kilometer durch – maximaler Respekt dafür!
An Verpflegungsstation 2 bei Kilometer 82 werden noch mal alle Vorräte aufgefrischt – noch 60 Kilometer und zwölf Pavés stehen auf dem Programm. Unter anderem der Mons-en-Pévèle mit fünf Sternen und drei Kilometern Länge. Der geht noch mal richtig in die Arme. Dann Verpflegungsstation 3 bei 112 Kilometern – schon jetzt bin ich heute weiter gefahren, als ich jemals am Stück auf dem Rad saß. Die letzten 30 Kilometer gingen dann wie im Flug vorbei, die letzten Sektionen waren gleichbleibend hart, aber die Aussicht auf das Ziel im Velodrom von Roubaix lässt alle Schmerzen vergessen.
Dann, nach 144,5 Kilometer die Einfahrt in das Velodrom, eine halbe Runde bei hoher Geschwindigkeit, um nicht von der Bahn zu rutschen. Dann die Ziellinie – ich reise die Arme hoch, weil ich irgendwie das Gefühl habe, dass man das so macht.
Fertig, aber glücklich kommen nach und nach auch meine Mitfahrer ins Ziel. Wir klatschen ab, schnell noch ein Gruppenfoto und die Teilnahme-Medaille entgegennehmen, dann wird es Zeit für einen Burger mit Pommes. Oder eine Dusche.
145 Kilometer am Stück, 50 Kilometer Kopfsteinpflaster, sechs Stunde Fahrtzeit, acht volle Flaschen Wasser, zehn Riegel, zehn Gelpacks, vier Bananen, zig süße Waffeln und kein platter Reifen. Das ist das Resümee meiner Paris-Roubaix-Challenge. Würde ich es wieder machen? Gar keine Frage. Werde ich es wieder machen? Auf jeden Fall.
Rennen der Profis
Neben der eigenen Challenge geht es natürlich auch darum, die Profis zu sehen. Dazu haben wir am Sonntag die Chance. Schnell noch die Wohnung gesäubert und alles zusammengepackt, dann geht es an den Pavé bei Orchies, um auf die Pros zu warten. Trotz Anfang April ist es mittags schon 25 Grad warm und das Warten sorgt für ordentlich Sonnenbrand. Dann kommt die Werbekarawane durch; Autos der Sponsoren, aus denen Werbegeschenke geworfen werden. Dann weitere Auto, dann Motorräder, dann wieder Autos.
Dann kündigt der kreisende Hubschrauber endlich die nahenden Profis an. Sekunden später sind die ersten durch, dann kommt das Peleton und es wird eng auf dem Kopfsteinpflaster. Einzelne Fahrer folgen, dann wieder größere Gruppen. Noch Minuten später schleppen sich Fahrer an uns vorbei, die schon deutlich leiden und staubig sind – ein oder mehrere Stürze und Defekte sind einfach nicht so leicht weg zu stecken. Aber aufgeben ist keine Option. Wir wollen noch zu einer zweiten Stelle an der Strecke, geben also ordentlich Gas und stehen plötzlich in einem Dorf an einer Straßensperre. Wir lassen die Autos stehen und sind direkt an der Strecke. Zwei Minuten später ballern die Profis erneut an uns vorbei, begleitet von der Auto- und Motorradkampagne.
Das Beste an der Stelle, die wir durch Zufall gefunden haben: Direkt nebenan ist eine Frittenbude, die einen Fernseher hat. Klar, dass hier das Rennen läuft. Wir bestellen Pommes, Limo und Bier und ziehen uns die letzten Kilometer im TV rein. Van Avermaert gewinnt das 115. Paris-Roubaix, wir haben noch 400 Kilometer bis zurück ins Ruhrgebiet vor uns.
Das Paris-Roubaix Wochenende war Radfahren pur. Es war einmalig, die Strecke selbst zu fahren und ein krasses Erlebnis, die Pros zu sehen. Krass, wie schnell die sind.